Warum ist es ein Trugschluss, dass Shaming abhärtet?

Wenn ein erwachsener Mann sagt: “Ich habe mit niemandem über den Tod meines Vaters gesprochen, mein innerer Soldat sagt, sei stark, geweint wird nicht, das ist Frauensache!“ Und hinzufügt: „Ich fühle mich aber alles andere als stark, ich bin müde und habe das Gefühl mir wächst alles über den Kopf. Ich greife zu oft zur Ablenkung zum Alkohol, das gefällt mir nicht“. Dann ist ihm wahrscheinlich in seiner Kindheit sehr viel verwehrt worden, das vermeintlich zur Abhärtung dienen sollte. 

Das gleiche gilt für eine Frau, die sagt: “Ich habe so viel Wut in mir, ich weiß gar nicht wohin damit und trotzdem kann ich keine Grenzen setzen, ich bekomme die Worte einfach nicht über die Lippen. Diese innere Unruhe lässt mich schlecht schlafen und dann stehe ich nachts auf und esse“. Als wir dem ganzen mehr auf den Grund gehen, kommt ein Satz zum Vorschein, den sie als Kind immer wieder hörte: „Mädchen sieht man, hört man aber nicht.“

Warum verursachen diese Sätze in Kindern Blockaden, die sie im erwachsenen Leben oft stark belasten können? 

Wenn wir in unserer Kindheit nicht die Möglichkeit bekommen das komplette Spektrum der Emotionen leben zu dürfen, weil das eine vermeintliche Schwäche ist, dann tritt genau das Ungewollte ein, wir sind nicht stark und nicht selbstbewusst. Emotionen sind für uns Menschen so wichtig, wie der Regen und die Sonne für die Vegetation der Natur. Von Traurigkeit über Wut bis hin zur Freude, alles im Ganzen ist wichtig, um mit beiden Beinen im Leben stehen zu können.

Emotionen, die gelebt werden, kommen im Flow und haben ein Anfang und Ende. Wenn das Ende einer Emotion jedoch gestoppt wird, ist das zu vergleichen mit einem fließenden Bach, in dem ein Fass als Blockade platziert wird. Das Wasser fließt jetzt nicht mehr weiter, sondern staut sich in dem Fass auf, bis das berühmte Fass voll ist. Wenn Emotionen in der Kindheit immer wieder gestoppt werden, stauen sich diese im Fass auf und werden bis ins erwachsene Leben mitgeschleppt. Das heisst, die kleinste Kleinigkeit kann das Fass zum überlaufen bringen.

Wo fängt alles an? Wie sieht es aus, wenn ich ein Gefühl einem Kind verwehre?

Ich stand mal in einer Schlange auf einem Feuerwehrfest, es gab Spielzeug-Hubschrauber zu verschenken, vor mir eine Mutter mit ihrem Sohn, der ungefähr 6 Jahre alt war. Plötzlich kam die Aussage: „Die Hubschrauber gehen langsam aus“. Der Junge vor uns fing zu weinen an und seine Mutter sagte genervt: „Ja aber wegen so etwas doch nicht“ und der Vater lachte ihn aus. Ich merkte, wie der Junge sich zusammenriss…jedoch überkam ihn mehr Traurigkeit und obendrein Wut.

Warum diese Kettenreaktion? Das nennt man „double arrow shaming“ (doppelte Pfeil Beschämung), der erste Pfeil ist der eigentliche Grund, in dem Fall die Traurigkeit über den Hubschrauber, der zweite Pfeil, das Unverständnis der Mutter und das Beleidigen durch das Auslachen des Vaters. Der 2. Pfeil ist der, der noch mehr weh tut und bei Wiederholung dieses Musters prägend ist. Die innere Kritik fängt an zu glauben “nicht zu genügen, nicht gut genug zu sein.”

Wenn in der Welt eines 6-jaehrigen die Flugzeuge ausgehen, als er gerade voller Freude kurz vorm Ziel steht…Wenn das ihn nicht traurig machen darf, was dann? In dem Moment hätte ein Arm auf der Schulter genügt oder ihm in die Augen sehen und sagen, das kann ich verstehen und seine Grundtraurigkeit hätte ein Anfang und ein Ende gehabt. Aber diese gestoppt, nicht geduldet und obendrein beleidigt zu haben, sind Layer von Gefühlen, auf die meist Wut folgt. Einmal auf sich selbst, dass er nicht hart im Nehmen ist, den Eltern nicht genügt und zum anderen auf die Eltern, dass sie seine Welt nicht verstehen. Meist folgt auf die Wut noch Bestrafung. All das - um den Jungen vermeintlich stark zu machen? 

Hier kommt der Trugschluss. 

Die Wut, die sich bei vielen Menschen bei wiederholtem „double arrow shaming“ aufstaut und dadurch einen starken Verteidiger Part entwickeln, der sie bis ins erwachsene Leben begleitet, ist die vermeintliche Abhärtung. Jedoch findet das nur im Außen-Ich statt, denn auf andere wirkt der Mensch hart im Nehmen. Das Innen-Ich sieht ganz anders aus, das hält eine Menge aufgestautem emotionalen Stress unterdrückt mit hoher Eigenkritik. Alles andere als ein selbstbewusstes Leben.

Wie macht sich das im erwachsenen Leben bemerkbar?

Protektoren, wie zum Beispiel Wut, Humor, Pleaser, versuchen nach innen und nach außen zu helfen, das Aufgestaute zu überspielen. Wenn das nicht mehr reicht entstehen bestimmte Verhaltensmuster, wie Aktionismus, Workaholic, Extremsport, Alkohol etc, nur um das Gefühlte, die innere Unruhe weiter zu unterdrücken. Dieser Unterdrückungsprozess kostet Kraft und zehrt am Körper und kann über die Zeit zu Depression, Anxiety und psychosomatischen Schmerzen etc. führen. Das Fass hingegen wird weiter durch sämtliche Situationen im Alltag immer wieder aktiviert (getriggert), da Gefühle nicht gelernt wurden zu leben (zu prozessieren), steigt der Pegel weiter an. Es ist ein Kreislauf entstanden, der bewusst gestoppt werden muss, wenn man den Schaden, den das Gewicht über die Jahre anrichten kann, vermeiden möchte. Da bekommt die berühmte Midlifecrisis ein ganz neues Sinnbild und mehr Aufschluss über den Ursprung.

Ein Beispiel dazu…

Ich war vor kurzem bei einem Vortrag über Leadership. Der Vortragende reiste mit seinem ganzen Team an. Als er angekündigt wurde, applaudierte sein Team mit großem Enthusiasmus und gab dem Publikum zu verstehen aufzustehen. Ein Auftritt wie für einen Star. Ich wurde hellhörig, so ein Auftritt versprach starke Protektoren (Ego). Der Vortrag begann und etwas später lud er drei Freiwillige vor das Publikum, um Leadership-Tools zu demonstrieren. Als die erste konstruktive Frage zu seiner Vorgehensweise gestellt wurde, wandelte sich sein Gesichtsausdruck und die Rage war ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Reaktion stand nicht im Verhältnis zur Situation. Er fühlte SICH kritisiert und der Fragesteller wurde despektierlich abgekanzelt. 

Was passiert hier? Was geht in so einer Person vor?

Hier liegt ein großes Fass mit emotionalem Schmerz zu Grunde. Die Auflösung meiner Vermutung folgte schnell, als er fallen ließ, dass seine Eltern der Meinung waren, dass er es nie zu etwas bringen würde. Sein Außen-Ich wird unermüdlich nach Aufmerksamkeit und Applaus lechzen, denn das ist Balsam für seine Wunden. Jedoch der kleinste Zweifel in einer Frage oder Aussage lässt seine Kritik auf Hochtouren laufen und bestätigt wieder und wieder die Wunde des Innen-Ichs „nicht gut genug zu sein“ und die Rage folgt als Protektor. Erst wenn der emotionale Stress (das Fass) seiner Kindheit prozessiert ist, kann der Fluss wieder fließen. Dann kann er von seiner kreativen Energie (Passion/Talent) schöpfen, die ihn nicht nur erfolgreich sein lässt, sondern obendrein ausgeglichen und zufrieden und besser noch - sich selbst mögen. 

Fazit

Es ist out-dated, dass Jungs nicht weinen und Mädchen man nur sieht, nicht hört. Es geht hier auch weniger darum Komplimente bei Mädchen/Frauen zu vermeiden als zu kultivieren, dass sie gehört werden. Dass ihnen Zorn, Wut und Frust nicht abgesprochen werden, sondern dieses Gefühl von klein auf, auf Akzeptanz und Verständnis stößt. Genauso wie Jungs/Männer Traurigkeit, Angst haben und Hilflosigkeit fühlen dürfen. Es ist nie zu spät damit zu beginnen. Entweder man kommt in den Genuss von Kindesbeinen an oder man macht den Schritt später auf sich zu, weil man bewusst etwas ändern möchte. 

Unser Mann vom Anfang des Blogs konnte seinen inneren Schmerz prozessieren, der sich aufstaute durch den Glaubenssatz „Jungs weinen nicht“. Sein innerer Soldat wurde dadurch vom größten Kritiker zu seinem größten Fürsprecher. Heute kann er über den Tod seines Vaters sprechen und ohne Bedenken Traurigkeit empfinden, es ist ein natürliches Gefühl mit einem Anfang und Ende. Er steht wieder voller Energie im Leben und der Alkohol ist keine Flucht mehr. Auch die Frau konnte im Coaching ihren emotionalen Schmerz prozessieren und den Glaubenssatz, dass „Mädchen nicht gehört werden dürfen“ ablegen und empfindet heute Wut als ein normales Gefühl, das kommt und geht. Sie weiß jetzt ihre Grenzen zu kommunizieren, schläft wieder gut und flüchtet sich auch nicht mehr in Essattacken.

In beiden Fällen konnten die Blockaden (das Fass) gelöst werden und der natürliche Fluss war wieder hergestellt. Ein Leben mit mehr Leichtigkeit, innerer Zufriedenheit und neuer Energie. Dafür ist es nie zu spät.

Wenn Ihr Fragen habt, Euch selber in dem ein oder anderen wiederfindet, zögert nicht mich zu kontaktieren, ich helfe gerne. 

Herzlichst,

Birgit Rohm

Expertin für Self-Leadership

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